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Alle scheinen sich einig: Ohne Markenkern geht nichts. Ohne ein zentrales Nutzenversprechen können Unternehmen ihren Laden dicht machen. Ohne ein einziges einzigartiges Alleinstellungsmerkmal müssen Unternehmer einpacken. Wer den Wert seines Unternehmens nicht in einem einzigen Satz verpacken kann, braucht gar nicht mehr antreten. Die Kunden haben keine Zeit mehr, sich lange aufzuhalten. Überhaupt wurden sie schon viel zu oft mit leeren Versprechungen abgespeist. Die Konkurrenz schläft nicht. Wer jetzt keinen Markenkern hat, braucht sofort einen. So oder ähnlich lässt es sich vielfach nachlesen.
Markenkern klingt nach Allheilmittel. Die Sehnsucht nach dieser Essenz ist groß. Auf Unternehmensseite und auf Kundenseite, weil die Essenz zu kennen und in Worte fassen zu können, Entscheidungen für alle einfach macht. Gut, dass es Berater gibt, die hier eine Lösung parat haben. Kern klingt rund und wie irgendetwas, das sicher umhüllt im Innresten bewahrt wird. Entsprechend verkaufen Berater den Markenkern:
Markenkernentwicklung sieht nach einer sehr einfachen Sache aus. Ein Rädchen greift ins andere. Eine Schicht folgt der anderen. Scheinbar. Liest man bei den jeweiligen Experten nach, gehen die Meinungen weit auseinander, was im Markenkern drin sein muss oder kann. Mal sind es Werte, mal ein Nutzenversprechen, mal Stärken. Oft bleibt es bei leeren Worthülsen im Beratersprech.
Markenkern sieht in der Realität ganz anders aus:
Der Markenkern ist keinesfalls rund und statisch, sondern ein dynamisches Gebilde, dessen Rahmenbedingungen sich ständig ändern
Das Herzstück der Marke ist ein lebendiger Kern. Der Markenkern ist der Bereich, in dem die Werte, Persönlichkeiten, Angebote, Lösungen, Stories, Mitarbeiter auf die Werte, das Lebensgefühl, die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen im Umfeld treffen. Je höher die Schnittmenge, desto näher dran ist das Unternehmen an seinen Kunden. In der Nähe zum Kunden liegt meines Erachtens das größte Differenzierungspotenzial. Ein Deckungsgrad von 100% ist allerdings unrealistisch. Denn von außen wirken laufend Faktoren auf Unternehmen und Marke ein. Der Markenkern ist immer ein dynamisches Gebilde, das sich im Laufe der Zeit verändern darf und sollte. Deshalb genügt es auch nicht, ihn ein für alle Mal zu definieren, um ihn dann in Schichten zu verpacken.
Bedürfnisse und Erwartungen verändern sich. Was heute Kunden begeistert, kann morgen als selbstverständlich angesehen werden. Man denke z.B. an den kostenlosen Versand von Amazon. Sensationell war das bei der Einführung! Heute ist das der erwartete Standard bei allen Onlineshops.
Mitarbeiter kommen und gehen in Unternehmen. Ihre Erwartungshaltung an Arbeit und Arbeitgeber verändern sich im Laufe des Arbeitslebens, z.B. weil Familie dazukommt, weil der Partner umzieht, weil eine längere Krankheit auftaucht, weil ein neuer unsympathischer Chef vor die Nase gesetzt wird. Die Altersstruktur in Unternehmen verändert sich: Die einen haben sehr viele junge Mitarbeiter, die anderen kriegen gar keine mehr. Homeoffice und andere flexible work Ansätze verändern die Arbeitswelt. Software wird heute agil entwickelt statt nach der Wasserfallmethode. Die einen (z.B. Microsoft) führen neue Arbeitsmodelle ein, andere (z.B. IBM) schaffen Homeoffice wieder ab.
Mit den veränderten Ansprüchen von Mitarbeitern und neuen Arbeitsweisen gehen andere Erwartungen und Aufgaben an die Führungskräfte einher. Wo früher Manager Prozesse verwaltet haben, müssen Menschen heute neben den Verwaltungsaufgaben als Coach Teams motivieren. Hierarchien weichen auf. Neue Strukturen müssen geschaffen werden.
Gesetze ändern sich, werden komplexer. Man denke an das Urheberrecht, an strenger werdende Umweltgesetze oder die neue Datenschutzgrundverordnung (DGSVO). Letztere hat im Marketing großen Einfluss darauf, wie bestimmte Maßnahmen umgesetzt bzw. angepasst werden müssen. Das ist gerade für kleine Unternehmen eine große Herausforderung. Nicht alle Gesetzesänderungen haben unmittelbaren Einfluss auf den Markenkern, können aber durchaus zu Veränderungen im Geschäftsmodell führen.
Als das Gesetz zur Scheinselbständig kam, mussten sich viele Texter, freie Journalisten und Softwareentwickler beruflich neu aufstellen. (siehe Brand Eins).
Ein Beispiel aus dem Pflegebereich: Mit den Pflegestärkungsgesetzen wird die Förderung von ambulanten Pflegeleistungen gestärkt, wodurch neue Geschäftsmodelle für stationäre Einrichtungen entstehen. Mit den neuen Angeboten gehen neue Herausforderungen für die Führungskräfte, den Heimleitern und Pflegedienstleistern einher, um in einem wettbewerbsstarken Umfeld bei gleichzeitigem Fachkräftemangel erfolgreich zu bestehen.
Die schnellen technologischen Entwicklungen in vielen Bereichen (Stichwort Digitalisierung) führt bei den einen Unternehmen zu Stillstand, andere wiederum profitieren sehr. Im Handel können wir seit vielen Jahren beobachten, wer Chancen nutzt und sich neu ausrichtet oder welche Marke stirbt, weil Unternehmen bzw. Unternehmer nicht anpassungsfähig waren. Alle Player des Buchmarktes sortieren sich gerade neu: Manche Buchhandlungen schließen. Amazon eröffnet Buchläden. Verlage stellen sich neu auf mit eigenen Onlineshops oder mit Amazon als Key Account. Bibliotheken entwickeln sich vom Ausleihbetrieb zu Begegnungsstätten. Es gibt erste Bücher mit Augmented Reality Anwendungen. Services wie Audible und Hardware wie das Lesegerät Tolino haben sich etabliert. Das Geschäftsmodell Buch hat sich zu einem Geschäftsmodell Lesen entwickelt.
Die Marke Grundig war im Bereich Unterhaltungselektronik in meiner Kindheit nicht wegzudenken. Beim Fernsehen blickte ich auf den Schriftzug, im Auto beim Radio. 2003 musste das Unternehmen Insolvenz anmelden. Für mich ist das Beispiel Grundig eines der besten Beispiele, dass ich gerade Traditionsunternehmen kontinuierlich um ihren Markenkern kümmern sollten. Erfolg ist kein Ruhekissen und ein Markenkern sollte stets lebendig gehalten werden.
Grundig hat natürlich nicht nur der schnelle technologische Fortschritt zu schaffen gemacht, sondern auch die Konkurrenz aus Asien, die ebenfalls funktionierende Elektronikgeräte, aber deutlich günstiger auf den Markt gebracht haben. Etablierte Banken und Versicherung haben ihre stärkste Konkurrenz in Fintech-Startups bekommen, die ihnen kräftig einheizen, weil sie schneller und besser auf veränderte Kundenbedürfnisse reagieren können als die etablierten Unternehmen. Als ich Anfang der 90er Jahre in einem großen Versicherungskonzern meine Ausbildung machte und mit der Betriebsratschefin über meine Ideen zur Verbesserung im Unternehmen sprach, meinte sie: „Wir sind ein Schlachtschiff, das sich nur langsam dreht.“ Tradition und Größe können eben auch zum Verhängnis werden, wenn Menschen ihre Bedürfnisse und Erwartungen ändern. Besondere Aufmerksamkeit ist geboten, wenn du in deinem Unternehmen im Markenkern „Tradition“ als Kernwert stehen hast. Als kleines Unternehmen oder Solopreneur:in bist du natürlich viel flexibler als die Tanker. Nutze das!
Und noch etwas zum Thema Differenzierung
Alle Kreismodelle der Berater:innen versprechen, dass ihre Auftraggeber:innen sich nach dem Beratungsprozess differenzieren können. Das hakt für mich an zwei Punkten:
Zum einen brauchen Unternehmen nicht selbst sagen, worin sie sich von ihren Mitbewerber:innen differenzieren. Das entscheiden die Kund:innen selbst, wenn sie es erleben. Durch gute Markenarbeit können Unternehmen es den Kund:innen leichter machen, sich für sie zu entscheiden – vorausgesetzt, du hast ein klares Bild davon, was deine Kund:innen brauchen, wie sie entscheiden und was du selbst davon ehrlicherweise erfüllen kannst und willst. Das klappt, wenn du dir deines Wettbewerbsvorteils mit eingebautem Kopierschutz bewusst bist.
Zum anderen halte ich die Denke von der Konkurrenz als Feindbild für überholt. Ich spreche lieber von Mitspieler:innen statt Mitbewerber:innen. Den Kooperationsansatz finde ich vielversprechender. Dazu ein Beispiel: Im umkämpften Markt des Carsharings, einem noch vergleichsweise jungen Geschäftsmodell, setzen die beiden größten Anbieter „Car2go“ und „DriveNow“ auf Kooperation. Mit einem Mal stehen den Kund:innen viel mehr Autos zur Verfügung, sie werden mobiler. Gleichzeitig können die Unternehmen Kosten teilen bzw. senken. Sie schaffen dadurch eine höhere Kundenzufriedenheit bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stabilität. Das ist für mich eine wegweisende Haltung in Sachen Wettbewerb. Denn sie nimmt extrem viel Druck aus den Unternehmen, immer noch besser und anders als die anderen sein zu müssen.
Wundernd beobachte ich hier den boomenden Markt von Onlinekursen und Onlineakademien. Blended Learning und auch Blended Consulting haben großes Potenzial – keine Frage. Technologische Prozesse haben einen hohen strategischen Stellenwert (ohne sie geht nichts), aber null Differenzierungspotenzial. Warum nicht kooperieren? Warum nicht das gesamte technische Equipment für Software, Podcasts, Videokurse etc. teilen? Und dafür über die Persönlichkeit und verschiedene Angebotsarten, Unterrichtsstile unterschiedliche Menschen als Kund:innen anziehen?
Was bedeutet das nun für die Herleitung des Markenkerns?
Ich glaube nicht an ein Kreismodell. Um ein dynamisches Gebilde wie den Markenkern eines Unternehmens herzuleiten, braucht es einen agilen Prozess. Aus meiner täglichen Beratererfahrung weiß ich, dass meine Kund:innen und ich oft zwei Schritte vor und dann wieder einen zurück oder nach links oder rechts machen. Wir wechseln ständig die Perspektive aus dem Unternehmen heraus in die Kundenperspektive und wieder zurück. Von Anfang an ist die Passgenauigkeit von dem, was das Unternehmen leisten kann und will und dem, was Kund:innen erleben wollen und brauchen, im Blickfeld. Dabei beziehen wir die gesamten Wirkkräfte Kunden, Wettbewerb, Gesetzgebung, Mitarbeitende, Führungskräfte, technologische Entwicklungen ein und schauen, wo darin Chancen liegen und wo Widerstände bestehen.
Das ist an manchen Stellen zäh und anstrengend. Ich vergleiche den Prozess gerne mit einem Kamel, das durchs Nadelöhr muss. Mir ist klar, dass das Modell nicht so aufgeräumt daherkommt, wie das der Kollegen, birgt aber auch eine gewisse Ästhetik.
Was steht am Ende? Das Bewusstsein darüber, wie der dynamische Markenkern aussieht, und Klarheit über die Entscheidungen, die die Weiterentwicklung des Unternehmens auf Basis des Kerns betreffen. Daraus lassen sich leicht ein Slogan, Produktname, ein neues Logo und konkrete Marketingmaßnahmen ableiten. Groß ist die Erleichterung auf Auftraggeberseite, wenn sie merken: Wir müssen gar nicht in Kästchen und Kreise passen. Wir müssen nicht mehr einzigartig werden, wir sind es bereits. Fokussierung bedeutet nicht, sich auf eine einzige Zielgruppe spezialisieren, sondern ganz bestimmte Kundenbedürfnisse besonders gut zu erfüllen. Wir haben einen lebendigen Kern, mit dem wir uns besser an die veränderten Kundenwünsche und Marktkräfte anschmiegen.
Comments (3)
Liebe Maren, das Thema schwirrt also nicht nur mir durch den Kopf. Danke, dass Du den „Kern-Mythos“ aufdröselst und ein organischeres Gebilde daraus machst. Deine erste Grafik präsentiert das Modell ‚Hamburger‘ mit sehr vielen Extras, die zweite Grafik erinnert an eine Rose mit überlappenden Blütenblättern. Das wird m.E. der Komplexität des Themas mehr gerecht als die vermeintlich übersichtlichen Schichtenmodelle vom Anfang des Beitrags. Das bringt mich zu der Frage: Wer braucht wofür einen (flexiblen) Marken-„Kern“? Und woran merke ich, dass ich ihn gefunden habe, alle Wechselwirkungen der Um- und der Innenwelt eingeschlossen. Antworten habe ich noch nicht wirklich, aber ich freue mich über die Denkwerkzeuge dieses Artikels!
Liebe Jutta, herzlichen Dank für deinen Kommentar und deine Fragen: Wer braucht wofür den Marken-Kern? Jedes Unternehmen – egal ob groß oder klein – muss täglich Entscheidungen treffen, in was Zeit, Geld, Wissen und sonstiges Ressourcen investiert werden sollten. Was wird Kunden und Unternehmen glücklich machen? Zu wissen, wo genau die Überschneidungen liegen, was Werte, Haltung, Spirit, Persönlichkeit, Nutzen, Lösung, Produkt, Stories angeht, hilft an dieser Stelle enorm. Aber der Markenkern ist eben kein heiliger Gral, den man einmal gefunden für immer hat. Es ist eher eine Momentaufnahme, die kontinuierlich auf dem Prüfstand stehen sollte. Insofern gibt es eben auch nicht den Zeitpunkt, wo du merkst: Jetzt habe ich ihn! Wichtig ist, sich auf den Weg zu machen. Als ich mich vor beinahe zehn Jahren selbständig gemacht habe, habe ich das Bild des Espressos zum Herzstück meiner Marke Espressostrategie gemacht. So heißt mein Beratungsangebot. Es ist eine eingetragene Marke. Mein Slogan lautet wesentlich und wirksam. Über die Jahre ist (mir) klar geworden, dass die Menschen meiner eingetragenen Marke Espressostrategie gar nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, sondern viel mehr mir als Mensch mit meiner Haltung. Wesentlich und wirksam sind Teil des Markenkerns, aber eben auch viel mehr. Meine Freitagskühe sind Teil der Marke. Mein Eigensinn. Meine Workshops und meine Beratung. Neulich habe ich auf Facebook vor meinem Fotoshooting meine Freunde um Feedback gebeten, was typisch Maren sei. Es kam eine ganze Bandbreite dabei heraus. Bei weitem nicht alles, lässt sich auf die beiden Begriffe wesentlich und wirksam herunterbrechen. Die Marke Maren Martschenko ist so lebendig wie ich und die Menschen, die bei ihr andocken. Deshalb stelle ich jährlich mein Business auf den Prüfstand. Ist das, was ich anbiete, das, was die Menschen brauchen? Wen kann ich damit wahrscheinlich am glücklichsten machen? Was sind genau die Sehnsüchte und Wünsche meiner Kunden. Das frage ich zu Beginn jeder Beratung ab. Und auch am Ende. Ich bin über die Social Media Kanäle und über Veranstaltungen in einem kontinuierlichen Austausch mit meiner Community. Jeden Tag lerne ich etwas Neues. Dafür bin ich extrem dankbar! Und als vielseitig interessierter Mensch bin ich froh, dass ich mich und meine Marke mit mir und meinen Kunden verändern darf.
Ich werde demnächst noch einen Artikel darüber schreiben, was sich genau im Innersten dieses Kerns befindet. Ich möchte auch ein entsprechendes Worksheet entwickeln. Denn bei aller Heuristik, irgendwo muss man ja anfangen und dann einen nächsten Schritt machen. Dennoch: Es ist kein linearer Prozess, und wir sollten in einer VUKA Welt aufhören so zu tun, als sei ausgerechnet bei den Marken alles rund.
Viele Grüße, Maren
Es geht um die ineren Werte und die Bedeutung, die einer Marke eingeschrieben sind. Daraus lässt sich eine einzigartige Positionierung ableiten. Die zentrale Frage lautet dabei immer: Für was steht XY eigentlich?