Vergesst Zielgruppen!

Wir versetzen uns in ein Startup. Nennen wir es horsepower.com. Das Businessziel ist, Privatnutzer:innen, Händler:innen und Blogger:innen eine Special Interest Contentplattform im Netz verfügbar zu machen, die PS-Fans Feuer unterm Hintern machen soll. Sie soll zahlende Werbekunden anlocken, viel Traffic generieren und Synergien zwischen den einzelnen Zielgruppen schaffen. Es gibt einen Markt, die Konkurrenz hat bereits einen Fuß in der Tür, deckt aber nicht diese Bandbreite von Zielgruppen und Interessen ab. Die Gründer suchten Feuer und Flamme ein hochqualifiziertes Team an Entwickler:innen und ließen eine technisch ausgefeilte Lösung bauen, die alle Defizite des Wettbewerbs ausgleicht und unter einer Haube vereint. Sie rühmen die Plattform als den »Ferrari« unter den bisherigen Lösungen.

Das Problem wird relativ schnell nach dem längst überfälligen Launch offenbar: horsepower.com trifft auf eine kleinteilige Nutzerwelt, die sich als italienische Kleinstadt mit verwinkelten Gässchen entpuppt. Der Ferrari kriegt die Kurve nicht. Der Investor wartet bereits sehnsüchtig mit der Flagge im Zielbereich und will endlich messbare Ergebnisse sehen.

Man kann sagen: Die Hütte brennt!

Jetzt geht es darum, den Ferrari so umzubauen, dass er möglichst schnell straßentauglich wird. Die Gründer fragen sich:

  • Wo sollen die Prioritäten gesetzt werden?
  • Woran soll das Team zuerst arbeiten, damit es möglichst schnell sichtbare Ergebnisse liefern kann?
  • Welche Features sollen in den Fokus rücken?
  • Wie sollen die Vorteile der Plattform am besten kommuniziert werden?
  • Wie erreichen wir die passenden Blogger:innen?
  • Wie soll das begrenzte Budget sinnvoll eingesetzt werden? Zu welchen Anteilen ins Frontend-Design, in die Programmierung des Backends und in den Content?

Knapp verfehlt ist voll daneben

Wo war das Problem bei horsepower.com? Als potenzielle Zielgruppen wurden Privatpersonen genauso wie Händler:innen, aber auch Contentlieferant:innen im Themenbereich identifiziert. Allerdings viel zu weit und zu unkonkret gefasst. Das macht es so schwer, die Probleme und Bedürfnisse der potenziellen Kunden zu identifizieren, um darauf die Kommunikation und die Features auszurichten. Vieles bleibt vage, die Nutzungsmöglichkeiten unübersichtlich. Die technisch anspruchsvolle Lösung ist für den tatsächlichen Bedarf viel zu überdimensioniert. Dadurch fühlt sich am Ende niemand konkret angesprochen. Die Call-to-actions sind nicht klar. Die Differenzierung zum Wettbewerb bleibt unscharf. Eine Menge Geld und Zeit sind verpufft, weil man nicht vom Kunde als Mensch ausging, sondern einer abstrakten Gruppe. Auch wer seine Zielgruppe knapp verfehlt, kann voll daneben liegen.

Zielpersonen statt Zielgruppen

Nun kommt die berechtigte Frage: Was ist falsch an Zielgruppen? Das wird doch in der ersten Klasse Marketingschule gelehrt: Denkt in Zielgruppen! Habt immer die Zielgruppe im Auge!

Das Problem ist: Die Unterrichtsmaterialien in der Marketingschule wurden im analogen Zeitalter entwickelt als es drei Fernsehsender gab und das gedruckte Wort Gold wert war.

Das Internet hat das Informations- und Entscheidungsverhalten extrem verändert. Die Menschen werden täglich überflutet mit Werbebotschaften. Die Aufmerksamkeitsspanne sinkt erheblich. In den Fokus potenzieller Nutzer:innen und Kund:innen gerät nur noch, was leicht aufzunehmen ist und eine persönliche Relevanz hat. Das gelingt jedoch nur denen, die konkret, klar, emotional und persönlich ansprechend kommunizieren und leicht nutzbar ist. Das funktioniert nicht mit klassischer Zielgruppen-Denke nach demografischen Daten. Wer alle ansprechen möchte, erreicht am Ende niemanden. Die Alternative ist das Denken in Zielpersonen, auch Personas genannt.

Typische Fragen zur Erstellung einer Persona

Wie kommt man zu einer solchen Persona? Immer ausgehend vom Idealnutzer bzw. der Wunschkundin wird in einem ersten Schritt einem Menschen ein Name, ein Alter, ein Beruf und ein Privatleben gegeben. Auch wenn nicht bei jedem Unternehmen am Ende wichtig ist, wie die Person privat lebt und was sie liebt, hilft es doch sehr, sich das Leben der Person und damit auch den Menschen möglichst plastisch vor Augen zu halten.

In einem zweiten Schritt geht es darum, sich die konkrete Entscheidungssituation vor Augen zu führen. Je konkreter desto besser.

  • Welches konkrete Problem hat die Person?
  • Warum ist sie das Problem bislang nicht angegangen?
  • Warum kommt diese Person zu Ihnen?
  • Wovor hat diese Person Angst? Was könnte der Lösung jetzt noch im Wege stehen?
  • Was können Sie für die Person tun?
  • Was kann diese Person/dieses Unternehmen nach der Zusammenarbeit mit Ihnen besser, geht etwas leichter, wovon gibt es mehr, wovon weniger?
  • Wie hat die Person von Ihnen und Ihrem Angebot/Produkt erfahren?

Am besten erstellst du drei bis vier typische Personas, die unterschiedliche Kundentypen repräsentieren. Es gibt nie nur eine:n typische:n Kund:in. Am Ende hast du ein klares Bild von den potenziellen Nutzer:innen, Kund:innen oder Leser:innen, die dein Angebot gut und gerne nutzen. Du kannst dich in die Situation des Nutzers bzw. der Nutzerin hineinversetzen und weißt, was sie denkt, fühlt, was sie bewegt, welche Probleme und Bedürfnisse sie hat.

Das macht es sehr viel leichter zu entscheiden, welche Features relevant sind und was der Nutzer bzw. die Nutzerin auf der Customer Journey braucht. Entsprechend können finanzielle und zeitliche Budgets bei horsepower.com besser auf die Weiterentwicklung des Front- und Backends  verteilt werden.

Auch in der Unternehmenskommunikation kann das Startup nun persönlich ansprechend auf einer kognitiven und auf einer emotionalen Ebene kommunizieren.

Kund:innen, Nutzer:innen, Leser:innen sind keine abstrakten Wesen, die sich auf Zahlen, Daten und Fakten herunterbrechen lassen. Sie sind Menschen, die fühlen und denken. Wer das beachtet, der bekommt seine PS auch auf die Straße.

Comments (10)

  1. Zielgruppen sind abstrakt, aber in der Regel auf Basis solider Informationen ermittelt. Personas hingegen sind immer erfunden und basieren bestenfalls auf den Informationen über die Zielgruppe. Wichtig ist hierbei, nicht in Klischees zu verfallen. Sicherlich helfen Personas aber den Inhaltserstellern dabei, konkret („personalisiert”) zu schreiben, mehr aber auch nicht.

    Lesegefährliche Grüße
    Martin

    • Maren Martschenko

      Hallo Martin, vielen Dank für Deinen Einwand. Ich denke, er beruht auf einem Missverständnis, das viele im Zusammenhang mit der Persona-Methode haben. Auch der Erstellung von Personas sollte eine solide Marktanalyse und idealerweise eine Kundenbefragung vorausgehen. Neben der persönlichen Ansprache ist auch folgender Aspekt wichtig: Personas sind idealisiert auf die Zukunft des Unternehmens ausgerichtet, während die Zielgruppenorientierung vergangenheitsbasiert ist. Gerade wenn es um disruptive Geschäftsmodelle geht ist das kontraproduktiv.
      Wie auch in dem von mir beschriebenen Beispiel erlebe ich bei Startups und kleinen Mittelständlern, dass intern Entscheidungen schneller fallen, weil es eine konkrete Referenzpersonen gibt, an denen man sich orientiert.
      Das sin neben der persönlicheren Kommunikation zwei ganz wesentliche Vorteile dieser Vorgehensweise.

    • Maren Martschenko

      Ach ja und noch etwas, das ich bei meinen Kunden immer wieder beobachte, wenn sie Personas entwickelt haben und damit arbeiten: Sie identifizieren sich viel besser, mit dem was sie tun: sie strengen sich viel mehr an, etwas richtig Nützliches ganz konkret auf den Markt zu bringen, auch wenn die Person erst eimal fiktiv ist. Allein die Aussicht darauf, diese Idealkunden zu gewinnen, motiviert extrem. Das geht weit über die Kommunikation hinaus. Möglicherweise ist das für Texter in der technischen Dokumentation nicht so relevant, bei meinen Kunden, Inhabern von kleinen Unternehmen, jedoch sehr.

  2. Hallo Maren,

    sensationeller Beitrag, musste ich auch gleich komplett teilen, dabei hat mir ganz besonders dein Bild / Formulierung gefallen:

    „Das Problem ist: Die Unterrichtsmaterialien in der Marketingschule wurden im analogen Zeitalter entwickelt als es drei Fernsehsender gab und das gedruckte Wort Gold wert war.“

    Auch dein Schlußsatz ist perfekt, wenn wir von Homepagebesuchern sprechen, vergessen unsere Kunden oftmals, dass es sich hierbei um Menschen handelt, nicht um Maschinen.

    Danke und Gruß,

    Winni

    • Maren Martschenko

      Vielen Dank, Winni, für das schöne Feedback und fürs Teilen 🙂

  3. […] direkte und verbindliche Ansprache schaffen. Maren Martschenko beschreibt in ihrem Beitrag „Vergesst Zielgruppen!“ sehr treffend worauf es bei der Definition von Personas […]

  4. Super Beitrag,
    der mir leider bisher durchgerutscht war. Ich habe ihn gleich in unsere kommentierte Linkliste zu Zielgruppen und Personas mit aufgenommen:
    http://blog.doctima.de/2014/10/leseliste-zielgruppen-und-personatechnik/

    Danke,
    Markus

    • Maren Martschenko

      Hallo Markus, vielen Dank. Das ist eine interessante Liste. Gerade habe ich mit einem Startup für eine App mit den Personas gearbeitet. Obwohl erst skeptisch war das Team nachher begeistert über die Erkenntnisse, die es dadurch gewonnen hat.

  5. Ging mir bei einem Doku-Projekt ganz ähnlich. Nachdem wir die Personas fertig hatten, wurde dem Kunden klar, dass er auf die Hälfte seiner Anleitungen verzichten kann.

    Danke dafür, dass du eine Lanze für Persoans brichst, viel mehr Unternehmen sollten sie einsetzen.

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